Erdmagnetfeld auf Abwegen
10.07.2024
Geomagnetische Feldexkursionen sind ein aufschlussreiches Kuriosum des Erdmagnetfeldes
10.07.2024
Geomagnetische Feldexkursionen sind ein aufschlussreiches Kuriosum des Erdmagnetfeldes
Unser Erdmagnetfeld gleicht einem sogenannten Dipolfeld, d.h. es besitzt zwei magnetische Pole - den Nordpol und den Südpol - nahe der Rotationsachse der Erde. Dass sich die Polarität des Dipolfeldes des Erdmagnetfelds in der Vergangenheit mehrfach umgekehrt hat (das heißt Nord- und Südpol haben ihre Plätze getauscht), ist vielen Leuten außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft bekannt. Dass es jedoch auch Phasen gab, in welchen das Dipolfeld schwächer wurde und sich die Position der Pole von der Umgebung der Erdrotationsachse wegbewegt haben, ohne das es schlussendlich zu einer Polumkehr kam, ist eher weniger bekannt. Wenn sich die Pollage mehr als 45° von der Rotationsachse der Erde entfernt nennen Paläomagnetiker das geomagnetische Feldexkursion. Diese sind außerordentlich interessant, wenn man Feldumkehrungen verstehen möchte. Sind Exkursionen abgebrochene Feldumkehrungen oder liegen ihnen andere Mechanismen zugrunde? Was bestimmt, ob sich das Feld komplett umkehrt oder es "nur" zu einer Feldexkursion kommt? Wie ist die Geometrie des Erdmagnetfeld während einer Feldexkursion, also hat das Feld vielleicht mehr als zwei Pole (Dipol, Quadrupol, Multipol)? Vor allem für Modellierer von Geodynamosimulationen sind diese Fragen von grossem Interesse.
Geomagnetische Feldexkursion in Sibirien?
Stephanie untersucht eine mögliche Feldexkursion, die von Autoren einer anderen Studie als "Bolshoye Shchuchye Event" bezeichnet wurde. Drei jeweils 24 m langen Bohrkernen aus zwei sibirische Seen wurden in dieser Studie untersucht und dabei diese Abweichung der Erdmagnetfeldrichtung entdeckt. Im Zusammenhang mit dem Fund des sogenannten Bolshoye Shchuchye Event sind jedoch noch einige Fragen unbeantwortet, welche nun von Stephanie untersucht werden. Diese sind:
Magnetische Partikel im Sediment "erinnern sich" an das Erdmagnetfeld längst vergangener Zeiten
Um diese Fragen zu klären hat Stephanie zunächst die magnetischen Partikel in den Sedimentkerne näher untersucht. Nur die magnetischen Partikel im Sediment zeichnen das Erdmagnetfeld auf, jedoch nicht alle magnetischen Partikel können diese Information zuverlässig über tausende und millionen von Jahren speichern: Je größer die magnetischen Partikel sind, desto "vergesslicher" sind sie. Stephanie hat zunächst die magnetischen Minerale im Labor der Universität Köln identifiziert und charakterisiert. Und in der Tat sind die magnetischen Minerale in diesem Bereich der Bohrkerne, in welchem das Event aufgezeichnet wurde, in Zusammensetzung und Korngröße geeignet das magnetische Signal zuverlässig bis heute zu bewahren. Da das Bolshoye Shchuchye Event zudem in zwei unabhängigen Seen augezeichnet wurde, kann Stephanie davon ausgehen, dass es eine wirkliche Abweichung des Erdmagnetfeldes ist.
Als nächstes untersuchte sie ob die Intensität des Erdmagnetfeldes zur Zeit des Bolshoye Shchuchye Events nachgelassen hat. Es ist bekannt, dass das Dipolfeld während Exkursionen und Polumkehrungen schwächer wird. Stephanie hat auch zur Zeit des Bolshoye Shchuchye Events eine Schwächung des Feldes festgestellt. Dies weist allerdings noch nicht nach, dass das Boshoye Shchuchye Event eine geomagnetischen Exkursion ist: Laut Definition ist hierfür nur die Abweichung der Pollage von der Rotationsaxe entscheidend. Diese wird anhand der magnetischen Inklination ermittelt: Als Inklination wird der Winkel bezeichnet mit dem die Magnetfeldlinien auf die Erdoberfläche treffen: an den Polen treten die Magnetfeldlinien senkrecht auf/aus dem Boden (=90°), am Äquator verlaufen sie parallel zur Erdoberfläche (=0°). Wenn nun die Inklination niedriger ist als heute an gleicher Stelle beobachtet werden kann, war die Position des Pols anders als heute. Hier ist Stephanie noch am auswerten, da weitere Analysen notwendig sind, um die genaue Pollage zu berechnen.
Pflanzenreste, Asche, Jahreszeiten - verschiedene Methoden zur Altersbestimmung
Stephanie hat die zeitliche Veränderungen der Inklination und der Stärke des Erdmagnetfelds am Bolshoye Shchuchye See mit denen von anderen sedimentären Geoarchiven verglichen. Dafür muss sie das Alter des Sediments in den verschiedenen Tiefen des Bohrkerns kennen. Für die Sedimentkerne aus dem Bolshoye Shuchye See wurden die meisten Alter mittels Radiocarbonmethode (auch C14-Datierung genannt) festgestellt. Hierbei werden Pflanzenreste datiert, die im Sediment erhalten geblieben sind. Zudem wurde das Alter einer Sedimentschicht durch Tephrochronologie ermittelt. Tephra (auch vulkanische Asche genannt) ist eine Ablagerung die durch explosiven Vulkanismus entsteht. Die Methode beruht auf einen Vergleich des Ergebnisses genauer Elementanalysen mit den Werten in einer Datenbank. Tatsächlich konnte eine Tephra gleicher Zusammensetzung in der Datenbank gefunden werden, für welche das Alter bereits bekannt ist. Somit kann Stephie davon das Alter ihrer Proben weiter genauer eingrenzen. Im untersten Teil des Sedimentkerns wurde das Alter zudem durch Zählen der Jahreszeitenschichten, sogenannte Warven, ermittelt. Durch all diese verschieden Methoden wurde das Alter des Bolshoye Shchuchye ziemlich genau eingrenzt so dass die gemessenen Schwankungen der Inklination und der Intensität des Erdmagnetfeldes mit anderen magnetischen Aufzeichnungen aus sedimentären Archiven vergleichen werden können. Zusammen mit Aufzeichnungen des Erdmagnetfeldes aus dem schwarzen Meer und vor der Küste vom Jemen hat Stephanie nun klare Hinweise darauf, dass das Bolshoye Shchuchye Event einem bekannten Ereignis entspricht, dass global auftrat: Hilina Pali/Tianchi.
Bolshoye Shchuchye Event → Hilina Pali/Tianchi
Somit braucht das in Sibirien gefundene Event keinen neu eingeführten Namen, da es der von manchen Autoren als geomagnetischen Exkursion bezeichneten Hilina Pali/Tianchi entspricht. Die Bohrkerne aus dem Bolshoye Shchuchye See in Sibirien sind jedoch die bisher detailierteste Aufzeichnung dieses Ereignisses. Über die Existenz und Ausprägung von Hilina Pali/Tianchi wurde bisher in der Fachwelt viel diskutiert, weil global sehr wenig Belege gefunden wurden. Mit den Aufzeichnungen aus Sibirien kann es nun in Zukunft viel genauer untersucht werden.
Stephanie Scheidt1, Norbert Nowaczyk2, Jo Brendryen3, Carl Regnéll3, Sædís Ólafsdóttir3, Haflidi Haflidason3, Jon Inge Svensson3
1: Universität zu Köln, Deutschland, 2: GFZ Potsdam, Deutschland, 3: Universität von Bergen, Norwegen
Im Jahr 2009 wurden im Rahmen von Bohrkampagnen Sedimentkerne aus den im polaren Uralgebirge in Sibirien gelegenen Seen Bolshoye Shchuchye (Kerne 506-48 und 506-50) und Maloye Shchuchye (Kern 506-51) gewonnen. Die Bohrkerne sind 24 Meter lang und reichen etwa 24 kyr zurück. Das Altersmodell der Kerne basiert auf der Radiokohlenstoffdatierung, einem Tephrahorizont und Warvenzählungen, die hauptsächlich am Kern 506-48 durchgeführt und auf die anderen Kerne übertragen wurden, indem lithologische Merkmale und die magnetische Inklination korreliert wurden. Auf der Grundlage der Inklinationsdaten benannten Haflidason et al. (2022) ein ausgeprägtes Merkmal des geomagnetischen Feldes als Bolshoye Shchuchye Event. Dieses Ereignis ist in allen drei Kernen deutlich sichtbar. Dem Altersmodell zufolge fand es zwischen 20,47 ka cal BP und 19,23 ka cal BP statt. Hier präsentieren wir die ersten magnetomineralogischen Ergebnisse aus dem Kern 506-48, welche dazu dienen die Träger des magnetischen Signals zu bestimmen und den primären Ursprung der Richtungsbeobachtungen und die Eignung des Sediments für die Bestimmung der relativen Paläointensität (RPI) sicherzustellen. Wir stellen auch die in den Bohrkerne 506-48 und 506-50 aufgezeichnete relative Paläointensität (RPI) vor und vergleichen unsere Ergebnisse mit anderen Aufzeichnungen des geomagnetischen Feldes. Wir beantworten die Frage, ob es sich bei dem Bolshoye-Shchuchye-Ereignis um eine lokale Besonderheit, ein Äquivalent zu anderen geomagnetischen Exkursionen oder um eine neu entdecktes Merkmal des geomagnetischen Feldes handelt.
Does the Bolshoye Shchuchye Event exist? Stephanie Scheidt, Norbert Nowaczyk, Jo Brendryen, Carl Regnéll, Sædís Ólafsdóttir, Haflidi Haflidason, Jon Inge Svensson, Castle Meeting 2024, Utrecht, NL, June 30 – July 6, 2024, Session B: Archeomagnetism; Geomagnetism; Environmental magnetism, 2024, access poster via http://www.doi.org/10.13140/RG.2.2.25692.19840